Neues Wahrnehmen – von der Schnecke bis zum Müll

Kulturelle Bildung im Anthropozän: Eine Erkundung im Orangerieschloss Potsdam

 

Text von Grit Weirauch

Der Blick an diesem Septembertag ist weit. Die Wege sind gepflegt und die Beete stehen, wie seit hunderten Jahren im Park Sanssouci, in spätsommerlicher Pracht. Hier, im Orangerieschloss, treffen sich Kulturvermittelnde, um nun aber Neues zu erkunden:  Ihre neue Rolle im Zeitalter des Klimawandels, dem Anthropozän. Denn was passiert eigentlich, wenn Kulturelle Bildung nicht nur Kunst vermittelt, sondern sich öffnet – für transformative Prozesse?

Räume für Resonanz

Die Plattform Kulturelle Bildung Brandenburg hegt, wie Regionalleiterin Karin Kranhold eingangs betont, „eine große Leidenschaft, Räume zu eröffnen für neue Ideen.“ Seit kurzem stehen, wenn es um die Vermittlung von Kultur und Kunst geht, auch andere Wörter im Raum: Resonanz. Berührbarkeit. Beide zielen auf eine neue Art des Miteinanders ab. Auf ein anderes Erleben, wie es Oktay Bilgi in seiner Keynote ausführt.

In einer verletzlichen Welt

In seinem Vortrag sieht Bilgi, Erziehungswissenschaftler an der Universität Köln, Kulturelle Bildung als eine Praxis des Geschichtenerzählens.  Im Anthropozän ist es für ihn ein Weg des Lernens auf einem beschädigten Planeten. Zugleich sei es eine Kulturelle Praxis, um bestehende Machtstrukturen zu hinterfragen. Vorrangig stellt sich jetzt nur die Frage: Welche Arten des Geschichtenerzählens können zukunftsweisend sein?

Die Kulturelle Bildung müsse sich ohnehin, so Bilgi, neu verorten. Denn der Begriff ist „vernutzt“ und lasse sich nicht mehr so klar zuordnen. „Unter Umständen weiß man gar nicht, was mit den Begriffen Kulturelle Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung gemeint ist.“ Beide seien durch den Druck der transformativen Ziele der Weltpolitik überfrachtet.

Transformation als Erkunden

Für Bilgi ist Transformation hingegen ein Erkunden. Auch neuer Felder. So lässt er sich von der Multispezie-Forschung inspirieren – und von Konzepten der Empathie und Resonanz zu anderen Lebewesen. „Zu leben heißt voneinander abhängig zu sein“, zitiert er dabei den Biologen und Philosophen Andreas Weber. Eine Wahrnehmungsschulung gehe damit einher. Wahrnehmen, was andere fühlen. Tiere etwa. Wie es auch die französische Philosophin und Ethiologin Viciane Despret in ihren Büchern (Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen, Unrast 2019, Autobiografie eines Kraken, Matthes und Seitz, 2024) ausführt.

Die Landkugel im Schneckentempo

Für seine eigenen erziehungswissenschaftlichen Forschungen hat sich Bilgi deswegen einen ganz speziellen Ort des Erkundens ausgesucht. Er befragte Kinder in einem Hofkindergarten. Dabei berichten sie von ihren Erlebnissen und binden es in größere Kontexte ein, erzählen Monströses als auch Anrührendes in der Tierwelt, von Schnecken und der Erde als einer „Landkugel“, die im Schneckentempo um die Sonne kreist“.

Das Weben von Geschichten ist für Bilgi der Kern der Kulturellen Bildung, das Erzählen als eine sinnliche Erfahrung. Sie führe dazu, dass wir mehr sehen, mehr hören, mehr fühlen. Durch die „Dimension des leiblich Berührtseins“ würden wir unsere Welt und uns selbst neuformieren. Wie Kinder es tun.

Sinneswandel

In vier verschiedenen Workshops konnten anschließend die rund 50 Teilnehmenden ihre Wahrnehmung neu schulen. Indem sie Klima, Landschaft und Kunst auf eher unausgetretenen Pfaden erforschten – und selbst Teil des angestrebten „Sinneswandels“ wurden. Sei es durch auf sensorischen Erkundungen des Welterbes Park Sanssouci, durch Auseinandersetzungen über den Wert unseres Mülls oder beim Zeichnen im Freien. Und nicht zuletzt durch persönliche Gespräche und Diskussionen unter Kulturvermittelnden.

„Beim Vorlesen passiert ganz viel Unerwartetes“

Foto: Sina Ribak

Wir treffen uns im Garten: Über Götterbäume, den Baum des Lebens und weitere Verwandtschaften – über einen Walkshop und ihre Initiatorin Sina Ribak

Sina, du nennst dich Forscherin für Ökologie und Künste. Was meint das?

Sina Ribak: Es beinhaltet, dass ich nicht nur schreibe, sondern dass ich auch gerne im öffentlichen Raum forsche, mit sehr vielen unterschiedlichen Teilnehmenden aus unterschiedlichen Feldern. Die Mitwelt, sei es der Boden, den ich heute angesprochen habe, aber auch die Mikrolebewesen und Pflanzen und Tiere, sie sind immer Teil dieser Formate, weil sie uns auch ganz viel Wissen beibringen können.

 

Was sind das für Formate, die du anbietest?

Ein langjähriges Format in einer tollen Zusammenarbeit mit der Künstlerin Eva-Fiore Kovacovsky ist der Between Us and Nature – A Reading Club. Das ist ein kollektives, öffentliches Leseformat, Da hatten wir dieses Jahr unseren 50. Lesezirkel in der Zusammenarbeit mit dem Weltacker und Zabriskie, dem Buchladen für Kultur und Natur in Berlin. Wir lesen im Kreis laut Texte. Man hört die Stimme der Teilnehmenden und die Stimmen machen etwas damit, wie ich auch den Text und die Inhalte anders wahrnehme. Es sind Texte, die sich damit beschäftigen, wie das Mensch Natur Verhältnis ist oder sein kann.

 

Bei diesem Walkshop hast du uns Teilnehmenden auch zu dritt oder zu viert im Park Texte über die Natur laut vorlesen lassen. Dabei haben wir über den Text sozusagen Kontakt zur Natur aufgenommen, aber eben nicht nur über den Verstand, sondern auch durch Hören, Wahrnehmen, Spüren. Wie bist du auf dieses Format gekommen?

Ich habe das Format zufällig entdeckt, dank einer Kuratorin und Autorin, die mich persönlich eingeladen hatte. Das war gar nicht draußen, sondern im Winter im Dunkeln, im warmen Wohnzimmer. Dabei ist ganz viel Unerwartetes passiert, denn als Erwachsener bekommt man sehr selten vorgelesen. Ich fand die Perspektive, was passiert, wenn man es draußen in der Natur macht, sehr spannend. Es gibt auch einige künstlerische Projekte, die gezielt Projektionen und Performances für einen Fluss, für andere Lebewesen oder für Geister eines Ortes machen.

 

So ein Walkshop ist ja auch eine Gratwanderung: Die Sinne anzusprechen und gleichzeitig eine intellektuelle Auseinandersetzung anzuregen. Denn die Schwelle zu solchen Texten ist nicht gerade niedrig…

In dem Kreis, in dem wir heute auf der Tagung sind, weiß man, dass alle schon mal ein Buch in der Hand gehabt haben, und das erschrickt jetzt keinen. Es gibt andere Kontexte, da würde das wahrscheinlich gar nicht funktionieren, sondern es wäre eine sehr große Hemmschwelle, weil viele gar nicht mehr lesen und auch nicht auf dem Papier. Das ist immer ein Abwägen und Teil meiner Arbeit: Welche Arten des Forschens und des Lernens sind überhaupt möglich?

 

Und zugleich, so mein Eindruck, ist auch mit uns als lesende Gruppe etwas passiert. Es ist in diesem kurzen Zeitfenster, von gerade mal 15 Minuten, ein Miteinander entstanden. War das beabsichtigt?

Die Gruppendynamik, die heute in der Kleingruppe beim Lesen entstanden ist, war auf jeden Fall sehr gewollt. Und auch die Blicke und Fragen: Ah, bin ich dran? Liest du weiter? Macht jemand eine Pause? Was macht man in dieser Pause? Was ist in dieser Stille?

 

In welchen anderen Feldern bist du unterwegs?

Ich arbeite mit Künstlerinnen zusammen, auch mit AnthropologInnen, Wissenschaftshistorikerinnen, mit Botanikerinnen. Und bringe mein breites Wissen als Ingenieurin für Landschaftsnutzung und Naturschutz ein. Es geht dabei um Themen der Biodiversität, Boden, Klima, die Rechte der Natur. Auch der Aspekt einer sozial ökologischen Gerechtigkeit ist mir sehr wichtig. Manche Formate sind eher aus der Kunst oder der Architektur, andere mehr aus der Kulturarbeit oder der Kulturellen Bildung initiiert. Das können Art Labs oder Workshops in Museen sein oder auf Festivals, wie etwa zuletzt das Kunstfestival in Edinburgh. In Schottland haben wir mit dem Botanischen Garten und einer Stiftung aus Kolumbien zusammengearbeitet und über den Klimawandel gesprochen, auch aus der Perspektive der Pflanzen.

 

Sina Ribak

researcher for ecologies & the arts

Between Us and Nature – A Reading Club

 

„Monster, die wir selbst kreiert haben"

Der Bildhauer Hannes Brunner hat im Künstlerkollektiv die interaktive Installation stoff&wert initiiert. Sie stellt unsere Art der Wertschöpfung in den öffentlichen Raum – und vor allem in Frage

 

Hannes, ihr habt vor einigen Jahren eine illegale Mülldeponie bei Treuenbrietzen entdeckt, wo tausende Tonnen an gepresstem Müll lagern. Erinnerst du dich an deinen ersten Eindruck?

Hannes Brunner: Wir sind damals wie Wilderer gewesen. Es war die bübische Neugierde, das Abenteuer, die Erfahrung, in dieser Halle zu kommen. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge in einer Pinball Machine. Da waren diese Kuben und wir sind rumgeklettert, haben versucht von Hand diese Elemente mithilfe unserer eigenen physischen Kräfte zu bewegen. Für mich waren das von vornherein Wesen. Wesen, die in irgendeiner Weise entstanden sind und dann abgelagert.

Müll als Wesen?

Müll ist wie Monster, die wir eigentlich selbst kreiert haben. Und wir müssen damit leben. Es sind die Geister, die wir gerufen haben und die wir – und unsere Nachkommen auch nicht – nie mehr los werden. Wir werden sie nur los, indem wir lernen, damit umzugehen. Deshalb wollten wir diese Monster holen und sie zurück in die Stadt bringen.

Hier vor der Orangerie nun bietet ihr in dem Kunstprojekt Stoff Wert den Müll von einem dieser Kuben im Kilopäckchen an und wer ihn kauft, bekommt sogar Geld. Warum?

Pro Kilo bekommt man für die Entsorgung von Müll derzeit 94 Cents und diesen Preis wollen wir an Menschen weitergeben, die Verantwortung zeigen, diesen Müll wieder in den Recyclingkreislauf bringen. 1 Euro für 1 Kilo Plastikmüll.

Ist das nun aber Kunst oder muss das weg?

Wir wissen natürlich, wir können Müll nicht mehr wegdenken. Deswegen gibt es nur die eine Chance, ihn als etwas Dauerhaftes mitzudenken. Wir meinen, die Halle in Treuenbrietzen kann auch als Museum erklärt werden. Da kommt man hin, um zu lernen, wie unser Umgang mit Müll funktioniert.