Fahrräder
Foto: Jana Kühn

Jana Kühn: Kulturelle Bildung beginnt mit einem Fahrrad

 

Ein Essay von Jana Kühn

Jana Kühn evaluiert 2022/23 gemeinsam mit Marcel Pilz „Gelingensbedigungen von Kultureller Bildung in ländlichen Räumen Brandenburgs“ für die Plattform Kulturelle Bildung. Dabei entstehen verschiedene künstlerische Formate, die Gedanken und Ergebnisse zurück in die Praxis tragen. 

Das Essay ist inspiriert aus einem Gespräch mit Marcel Pilz und Luzia Schelling sowie vielen Besuchen von Projekten im ländlichen Raum im Rahmen der Evaluation „Gelingensbedingungen für Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen Brandenburgs“

 

Ein Fahrrad als Ausgangspunkt

In einem Foto hält er den Sattel des Fahrrads fest, auf dem ich meine ersten Flugversuche in unserem Brandenburger Garten mache. Der Weg, ein alter Plattenweg, dessen schmelzende Teerfugen im Sommer uns Kinder zum Herumpulen einluden, ist etwas holprig, aber dennoch meine Abflugbahn. Ich kann mich noch genau an das Fahrrad erinnern, türkis mit weißer Schrift und weißen Lenkergriffen, und an den Moment, der mit Angst, Neugier und Vorfreude gleichzeitig gefüllt war. Wäre dieses Fahrrad damals nicht gewesen, wäre mein Vater und dessen Zuspruch an mich nicht gewesen, wäre der friedliche Brandenburger Garten nicht gewesen, hätte ich Fahrrad fahren vielleicht nie gelernt. Ich hätte mich nicht frei jahrelang jeden morgen zur Schule bewegen können, hätte nicht mit Freund:innen zur Geigenprobe fahren können oder hätte später nicht die abenteuerliche Fahrradtour auf einem Ost-Klapprad von Falkensee an die Ostsee gemacht – der erste Ausflug mit der Clique. Die Mobilität, die mir das Fahrrad brachte, schlug für mich in wilde Freude um, darüber dass ich überall sein konnte, wo ich selbst sein wollte. Es war ermächtigend.

Ohne Mobilität geht nicht viel

Das Schönste daran, wenn ich jetzt als Kunst- und Kulturfrau darauf blicke, ist, dass es ein verbindendes Werkzeug für Kulturelle Bildung, eine Metapher für Mobilität, ist, dass niemandem fehlen sollte. Auf dem Drahtesel sind wir alle gleich. Gut, dass es mittlerweile die verschiedensten Ausführungen gibt, sodass auch Menschen mit Bewegungseinschränkungen auf ihm unterwegs sein können. Im Projekt „Segel setzen“ der Traumschüff Theatergenossenschaft war eine Rikscha unsere Rettung in der Zeit der Pandemie. Wenn die Menschen nicht zu uns ins Theater kommen können, dann müssen wir eben zu den Menschen. Später haben wir verstanden, dass das aufsuchende Theaterpädagogik heißt. Da hatten wir schon zu kreativen Spazierfahrten durch Oranienburg eingeladen, gemeinsam Geschichten gesammelt, in Audiokunstwerke verpackt und Gedichte mit Kreide im öffentlichen Raum hinterlassen, denn der gehört bekanntlich allen. Die Genossin Rosi, das Theaterschiff der Genossenschaft, macht dies seit ca. 7 Jahren vor und bespielt sensibel und mit Stücken, die über Interviews mit Vor-Ort-Lebenden entstehen, den ländlichen Raum rund um die Havel. Auf dem urbanen Pendant mit drei Rädern nahmen bei uns alle Generationen Platz, sogar mit 101 Jahren.
Im PlattenFix/ PlapperFix- Projekt in Potsdam vom Stadtteilnetzwerk Potsdam-West e.V. geht es auch existenziell her. Hier stellen wir für Menschen, die es brauchen, ein Fahrrad und Reparaturmöglichkeiten bereit. Oft kommen Geflüchtete, sogar von Eisenhüttenstadt, Menschen ohne Obdach oder Leute aus dem Kiez. In den Gesprächen untereinander auf dem Hof kommen sie zusammen und basteln gemeinsam an den technischen Herausforderungen, die das Zweirad mit sich bringt. Neben Kaffee für Mama’s und Marmeladenbrötchen für Kids gibt es Spiel, Austausch und Lebensberatung. Das Rad bringt mal wieder alle zusammen und lehrt uns, dass wir viel mehr Gemeinsamkeiten haben, wir Menschen, als wir uns immer wieder in Erinnerung rufen. Nicht, dass jede:r vorher ein Fahrrad gehabt hätte, im Iran sind Fahrrad fahrende Frauen nicht gern gesehen, ebenso in Syrien, aber dass wir damit viel weiter kommen als zu Fuß und es uns erlaubt ist viel neugieriger auf die Welt sein zu können, ist uns allen klar. Vor allen Dingen, wenn Wohnheime für Geflüchtete am Rand der Städte und in ländlichen Räumen installiert werden.

Im ländlichen Raum ist für die Projekte, die wir für die Plattform Kulturelle Bildung im Rahmen der Evaluation „Gelingensbedingungen von kultureller Bildung in ländlichen Räumen Brandenburgs“ besucht haben, die Mobilität ein extrem wichtiger Faktor, der zum Gelingen beiträgt. Das wissen auch Jalda Rebling und Anna Adam von „Makom – Kunst und Schule“ in Wittbrietzen, einem Ort mit 500 Einwohner*innnen, die ein Kulturportemonaie für alle visionieren. Das Konzert, der Kurs, die Aufführung drei Dörfer weiter kann noch so schön sein, noch so gut beworben, noch so kostenlos, noch so barrierefrei und ich habe auch noch Zeit, wenn ich es, ohne Fahrrad oder Bahn oder Taxi, dass auch meinen Rolli transportiert, dort nicht hin schaffe und ich mich auch nicht ermächtigt fühle irgendwo Gelder dafür zu erfragen. Geht das? Und wo? Wer kann mir helfen? Und wie? Ein Kulturportemonaie könnte, frei einsetzbar und ohne lange Anträge, weil einfach jede*r es bekommt, für Gebühren, Malkasten oder Fahrt zum Festival eingesetzt werden. Manch ein Bundesland hat den Kulturbus erfunden, zum Beispiel Berlin „Offensive Kulturbus“. Dort muss ich zu 30st sein, eine Schulklasse, und schon kann ich in das Theater an der Parkaue reisen. Geht das auch für Brandenburger Kinder? MitMachMusik bucht sich im Rahmen ihrer Projektmittel der Plattform Kulturelle Bildung einen Bus, um ihre jungen Musiker*innen, davon viele mit Fluchterfahrung, in den ländlichen Raum nach Paretz zur Probenwoche „KlimaKlänge“ bringen zu können. Räume, um dieses Natur-Erlebnis möglich zu machen, stellt die Helga Breuning Stiftung bereit. Dann gibt es da noch OTTO, den Kutlturbus von KulTuS e.V. in Buckow. Das Projekt weiß Bilderbuchfestivalmacher Oliver Spatz, mit dem wir gemeinsam mit Felix Brückmann von KulTuS e.V. sprachen, zu schätzen. Der brachte Ideen rund um das Festival, das jährlich in der Stadtpfarrkirche Müncheberg stattfindet, in den ländlichem Raum, direkt zu den Menschen.

Im Vertrauen darauf, dass wir das gemeinsam können

Bei einer Tummelei auf der Webseite von KulTuS e.V. finde ich ganz oben auch einen Hinweis zur Ukrainehilfe. Der Krieg hat uns, auch in der Kulturellen Bildung, wieder vor neue Herausforderungen gestellt, die wir gern und mit Enthusiasmus annehmen. Klar, wer sonst? Seit jeher kümmern wir uns um den Menschen, auf dass er sich entwickeln, teilhaben und sich frei entfalten kann in einer demokratischen, friedlichen Gesellschaft, für die wir am Gartenzaun, im Repaircafé, in der Bürger:innen-Bühne mit Vermittlung und viel Ehrenamt sorgen. Aber warum? Weil wir alle einst, früher oder später, auf diesem Fahrrad saßen, das uns jemand geschenkt hat, und jemand uns gehalten hat, uns Vertrauen gegeben hat. Vertrauen daran, dass wir das können und schaffen, dass wir fähig sind etwas in Bewegung zu setzen, aus eigener Kraft.

Und heute? Heute tun wir das Gleiche, gemeinsam, für die, die zum ersten Mal auf dem Fahrrad sitzen um Kulturelle Bildung zu entdecken.