Werkstattgespräch #1: Sprache als Schlüssel zur Welt
Wie frühkindliche kulturelle Bildung Teilhabe ermöglicht und Sprachentwicklung fördert
Ein Rückblick auf das Werkstattgespräch der Beratungsstellen „Kultur macht stark“ Brandenburg und Rheinland-Pfalz am 20. März 2025 von Tabea Herrmann
Am 20. März 2025 luden die Beratungsstellen „Kultur macht stark“ Brandenburg und Rheinland-Pfalz zum digitalen Werkstattgespräch „Sprache als Schlüssel zur Welt“. 90 Minuten lang gingen Expert:innen aus Praxis und Forschung der Frage nach, wie durch kulturelle Bildung sprachliche Teilhabe für alle Kinder ermöglicht werden kann. Die 149 teilnehmenden Kita- und Schul-Träger, Fördervereine und Akteure der Kulturellen Bildung – erhielten konkrete Inspiration für ihren pädagogischen Alltag.
Denn Sprache ist weit mehr als ein Kommunikationsmittel. Sie ist ein Werkzeug zur Welterschließung, eine Brücke zu anderen Menschen und der entscheidende Schlüssel zur kulturellen Teilhabe. Doch gerade für Kinder in Risikolagen oder aus mehrsprachigen Familien ist dieser Zugang keineswegs selbstverständlich.
Sieben gute Gründe, früh anzufangen
Den Einstieg gestaltete Luisa Leppin vom Netzwerk Frühkindliche Kulturelle Bildung. In ihrem Impulsvortrag stellte sie die sieben Kernargumente des Netzwerks vor, die verdeutlichen, warum kulturelle Bildung von Anfang an so wichtig ist:
Frühkindliche kulturelle Bildung…
- vergrößert und differenziert die Vielfalt kindlicher Wahrnehmungs-, Handlungs- und Ausdrucksformen – und damit auch die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten
- ermöglicht Kindern Erfahrungen von Selbstwirksamkeit – die Grundlage für selbstbewusstes Sprechen
- schafft Reflexions- und Dialoganlässe mit Kindern und unterstützt Sprachbildung
- eröffnet Kindern vielfältige Zugänge zu Kunst, Kultur, Gesellschaft und Welt
- stärkt das soziale Miteinander in einer durch Diversität geprägten Gesellschaft
- vermittelt Strategien zur Erschließung von Welt jenseits bekannter Normen
- trägt zur Qualitätsentwicklung pädagogischer Praxis und Einrichtungen bei
Diese Argumente machen deutlich: Sprachförderung durch kulturelle Bildung ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für eine gerechte Gesellschaft.
Storytelling: Geschützte Räume für eigene Geschichten
Den Höhepunkt der Veranstaltung bildete das Werkstattgespräch mit Praktikerinnen aus unterschiedlichen Perspektiven. Suse Weiße, Psychologin, Theaterpädagogin und Storytelling-Expertin, berichtete aus ihrer langjährigen Arbeit in Grundschulen, KiTas und Willkommensklassen.
„Mir ist es ein Anliegen, durch das gemeinsame Erzählen auch Kinder, die sonst in der zweiten, dritten Reihe stehen, oder sprachlich nicht so kompetent sind, zu stärken“, erklärt Weiße. Ihre Erfahrung zeigt: Erzählprojekte schaffen geschützte Räume, in denen Kinder ihre eigenen Geschichten finden und entwickeln können. Räume, in denen ihre Identität zählt und ihre Sprache – oder Sprachen – wertgeschätzt werden.
Genau hier setzt kulturelle Sprachbildung an: Sie ermöglicht es Kindern, die Verknüpfung von Kultur und Individualität zu lernen. Die Verbindung von sinnlicher Erfahrung mit kultureller Ausdrucksform – sei es durch Musik, Theater, Storytelling oder Kunst – schafft nachhaltige Bildungserlebnisse, die weit über klassische Sprachförderung hinausgehen.
Aus der Praxis: Digitale und analoge Geschichten verschmelzen
Anja Kirsten, Erzieherin an der Kita St. Michael in Trier Mariahof, berichtete aus der konkreten Arbeit mit dem Projekt „Seh/Hör-Geschichten“, das über „Gemeinsam digital! Kreativ mit Medien“ des Deutschen Bibliotheksverbands gefördert wird.
Das Projekt „Seh/Hör-Geschichten“ fand als Kooperationsprojekt zwischen der Kunstflotte Trier gUG, der Stadtbücherei Trier und der Kita St. Michael statt. Die teilnehmenden Vorschulkinder besuchten die Stadtbücherei, erlebten eine Bilderbuchpräsentation und arbeiteten in der Kita mit einem externen Team aus drei Künstler*innen an einer eigenen Erzählkino-Fassung der Geschichte „Die Schildkröte Mirakula“ von R.Buckley und E.Carle. Weitere Informationen zum Projekt sind auf der Seite der Kunstflotte einsehbar.
Die teilnehmenden Kinder druckten mit verschiedenen Objekten und erstellen selber Druckvorlagen der Tiere, die in der Geschichte vorkommen. So schufen sie ihre eigenen Bildwelten zu den zentralen Momenten des Märchens. Die Kinder probierten sich außerdem in der Kunst des Erzählens und des Reimens aus und begaben sich auf Klangrecherche in ihrem Umfeld. Die gefundenen Klänge und die Erzählungen der eifrigen Forscher*innen wurden mit einem Tonaufnahmegerät aufgezeichnet. Im letzten Schritt lichteten alle zusammen ihre Arbeiten mit einem Fotografen ab und erstellten ein spannendes digitales Bilderbuchkino. Gemeinsam gestalteten sie eine Kino-Vorführung, zu der Eltern, Geschwister und Freund*innen eingeladen waren.
Durch die Verschmelzung digitaler und analoger Erzählformen werden verschiedene Sinneskanäle angesprochen und unterschiedliche Lerntypen erreicht. Sprachliche Bildung geschieht hier in alltäglich wiederkehrenden Situationen – während der Mahlzeiten, in freien Spielsituationen, in gezielten Angeboten der Kita und in der Geborgenheit der Familie. Kinder, die vielleicht noch nicht gut lesen können, erleben Geschichten visuell. Kinder, die gerne zuhören, werden über Audioformate erreicht. Und alle können selbst aktiv zu Erzählenden werden.
Ein Video des Projekts „SEH/HÖR-GESCHICHTEN“ der Kunstflotte Trier gUG in Zusammenarbeit mit der Kita St. Michael Trier Mariahof und der Stadtbücherei Trier, gefördert über das Kultur macht stark-Programm „Gemeinsam digital! Kreativ mit Medien“ vom Deutscher Bibliotheksverband e.V.
Was Evaluation zeigt: Der Ansatz funktioniert
Die aktuelle Zwischenevaluation des Programms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung (2023-2027) durch das unabhängige Forschungsinstitut InterVal (März 2025) bestätigt bundesweit: Der Ansatz funktioniert. Über 90 Prozent der befragten Bündniskoordinationen geben an, dass Kinder und Jugendliche in Risikolagen sehr gut erreicht werden. Die Projekte entstehen verstärkt in Regionen mit überdurchschnittlich hoher sozialer, finanzieller und bildungsbezogener Risikolage – genau dort also, wo der Bedarf am größten ist.
Noch wichtiger aber: die Stimmen der Kinder selbst. 97,8 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen bewerten die anleitenden Personen positiv. 97,5 Prozent finden die Angebote interessant und begeisternd. Das sind nicht nur Zahlen – das sind Kinder, die sagen: „Das hat mir Spaß gemacht. Hier werde ich gehört.“
Der Schlüssel zu dieser erfolgreichen Zielgruppenerreichung liegt im Bündnismodell: 91 Prozent der Bündnisse verfügen über direkten Zugang zur Zielgruppe oder entsprechende Netzwerke. Lokale Akteure kennen den Sozialraum, wissen, wo Familien zu erreichen sind, verstehen die Lebenswirklichkeit vor Ort.
Die Evaluation zeigt durchgehend positive Effekte: 99 Prozent der Befragten beobachten Verbesserungen bei Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit, 98 Prozent bei sozialen Kompetenzen und künstlerischen Fähigkeiten. Diese Wirkungen sind besonders bedeutsam für die Sprachentwicklung: Kinder, die sich selbstwirksam erleben, trauen sich auch, ihre Sprache aktiv einzusetzen. Kinder, die ihre eigenen Geschichten erzählen dürfen, entwickeln Freude am sprachlichen Ausdruck.
Brandenburg: Vorreiter bei der Zielgruppenerreichung
Mit 324 Gesamtprojekten (Stand 1.7.2025) in der aktuellen Förderphase hat das Bundesland Brandenburg eine beachtliche Projektlandschaft aufgebaut. Besonders bemerkenswert ist die Zielgruppenerreichung: Brandenburg erreicht 184 Teilnehmende je 1.000 Kinder und Jugendliche in mindestens einer Risikolage – mehr als doppelt so viele wie der Bundesdurchschnitt von 66. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung der 3- bis 18-Jährigen werden in Brandenburg 44 Teilnehmende je 1.000 Kinder und Jugendliche erreicht, während der Bundesdurchschnitt bei 20 liegt.
Chancengerechtigkeit braucht Ressourcen
Die Ausgangslage ist ernüchternd: 67 Prozent aller Eltern mit geringem Haushaltsnettoeinkommen können ihren Kindern außerschulische kulturelle Angebote gar nicht oder nur sehr eingeschränkt ermöglichen. Bei Alleinerziehenden steigt dieser Wert sogar auf 73 Prozent. Kulturelle Bildung, die nachweislich die Persönlichkeitsentwicklung fördert und Bildungschancen verbessert, bleibt vielen Familien verwehrt – nicht weil die Kinder kein Interesse hätten, sondern weil die finanziellen Mittel fehlen.
Unser Fazit: Der Schlüssel Kulturelle Bildung passt
Das Werkstattgespräch machte deutlich: Wenn Sprache der Schlüssel zur Welt ist, dann ist kulturelle Sprachbildung der Schlüssel zu mehr Chancengerechtigkeit. Die vorgestellten Projekte und Evaluationsergebnisse zeigen: Dieser Schlüssel passt. Und er öffnet Türen – für Kinder, die ihre Stimme finden. Für Familien, die Zugang zu Kultur erhalten. Für eine Gesellschaft, in der Teilhabe keine Frage der Herkunft ist.
Das Programm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und läuft in der aktuellen Förderphase bis 2027.
Kontakt
Tabea Herrmann
Beratungsstelle „Kultur macht stark“ Brandenburg
Tabea Herrmann
kumasta@gesellschaft-kultur-geschichte.de
Telefon +49 331 58 250 120
www.kulturmachtstark-brandenburg.de