1. Erinnerungsräume – Wem gehört die Erinnerung?
Programm
10:00 EINSTIEGSREFERAT
Den Schmerz der Anderen begreifen
- Charlotte Wiedemann (Journalistin und Politologin, Autorin des gleichnamigen Buches zu „Holocaust und Weltgedächtnis“)
11:00 POSITIONEN UND MEINUNGEN
Gedenken in der DDR – Volkseigenes Erinnern?
- Dr. Patrice Poutrus (Historiker, Gastprofessor an der Technischen Universität Berlin, Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung)
Vertragsarbeit und Völkerfreundschaft – sozialistische Erinnerungen
- Paulino José Miguel (Projektleiter „Diaspora, Migration und Entwicklungspolitik“ beim Forum der Kulturen Stuttgart)
Ostdeutsch und migrantisch – Nachwirkungen aus einem untergegangenen Land
- Trong Duc Do (Projektmitarbeiter bei Verband binationaler Familien und Partnerschaften e.V., Leipzig)
12:30 MITTAGSPAUSE
14:00 Uhr
Migration musealisieren? Positionen des Deutschen Museumsbundes
- Dr. Bora Aksen (Sprecher und Stellvertreter für den Arbeitskreis Migration bei Deutschen Museumsbund, Bremen)
Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft
- Dr. Manuel Gogos (Kurator bei DOMiD, Journalist, Autor des gleichnamigen Buches zur Geschichte von DOMiD)
15:15
Vergessene Geschichte? Über Leerstellen der Erinnerungskultur
- Iris Rajanayagam (Referentin für Diversität, Intersektionalität und Dekolonialität bei der Bundeszentrale für politische Bildung Berlin/Gera)
Postkoloniales Gedenken als neue Form der Erinnerungskultur
- Paul Urbanski (Teamvorstand Projekt Postcolonial Potsdam)
16:30 KAFFEEPAUSE
17:00 ABSCHLUSSPODIUM
Neuer Wein in alten Schläuchen – Alter Wein in neuen Schläuchen?
Über den Universalismus und Partikularismus von Erinnerung
- Nadine Seidu (Leiterin der Koordinierungsstelle Erinnerungskultur beim Kulturamt Stuttgart)
- Dr. Matthias Heyl (Leiter der Bildungsabteilung Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück)
- Dr. Simone Mergen (Direktorin Bildung und Besucherservice, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn)
Moderation:
- Rainer Ohliger (Historiker und Soziologe Migrationsbrücken, Berlin)
Konzeption:
- Franz Kröger (Kulturpolitische Gesellschaft, Bonn)
Wem gehört die Erinnerung?
Erinnerungskultur hat Konjunktur. Dabei hat der erinnerungspolitische Umgang mit deutscher Geschichte verständlicherweise einen Schwerpunkt auf die NS-Schreckensherrschaft und ihren Folgen. Die Dominanz der Ereignisse zwischen1933 bis 1945 im individuellen Erinnern und öffentlichen Gedenken wird allerdings gegenwärtig von zwei Entwicklungen herausgefordert. Zum einen ist es das „Verschwinden der Zeitzeugenschaft“, welches neue Gedenk- und Vermittlungsformen notwendig macht, zum anderen ist es die damit verbundene Öffnung des Blicks auf andere historische Zeitabschnitte, die ebenfalls ein Gedenken verdienen.
Ein weiteres Argument verdient ebenfalls Berücksichtigung: Erinnern und Gedenken in Deutschland war lange Zeit eine Angelegenheit der deutschen Mehrheitsgesellschaft – und zwar im doppelten Sinne: Die Erinnernden waren Deutsche und das zu Erinnernde waren vor allem deutsche Verbrechen in der NS-Zeit. Die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft aus anderen Epochen deutscher Geschichte gerieten dabei nicht so in den Fokus, wie sie es auch jenseits „runder“ Gedenktage verdient hätten. Darüber hinaus vollzog sich das öffentliche Erinnern bis zur deutschen Vereinigung vor dem Hintergrund zweier politischer Systeme, für die Geschichte und die sie vermittelnde Geschichtswissenschaft immer auch Legitimationsfunktion besaßen. Nicht zuletzt der gesamtdeutsche postkoloniale Diskurs versucht dieses Manko deutscher Erinnerungskultur ins öffentliche Bewusstsein zu heben, womöglich Parallelen beim Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuzeigen.
Darüber hinaus wurde zunehmend anerkannt, dass die deutsche Geschichte – wie auch die Historie anderer Staaten – immer von Austausch und Zuwanderung geprägt war, und zwar nicht erst seit den „Gastarbeiter“- bzw. „Vertragsarbeiter“-Anwerbeaktionen in den 1950er bis 1970er Jahren. Den Einfluss von Migrant*innen auf die Entwicklung Deutschlands, von den Hugenotten in Preußen über die Vertreibungen des II. Weltkrieges bis hin zu den Flüchtlingen heute, gilt es stärker erinnerungspolitisch zu berücksichtigen und perspektivisch einzubinden. Dass dabei auch der „Blick von außen“ auf die deutsche Geschichte eine neue Bewertung erfahren muss, dürfte kulturpolitisch mittlerweile unbestritten sein.
Vor diesem Hintergrund versucht das Fachforum einen thematischen Bogen zu schlagen, der die unterschiedlichen Facetten von Erinnerung und Gedenken in historischer Perspektive und kulturpolitischem Diskurs aufgreift und bewertet. Thematisiert werden soll dabei auch der postkoloniale Diskurs, weil er rassistische Dispositionen der deutschen Mehrheitsgesellschaft in den Blick nimmt, die an die koloniale Vergangenheit erinnern. Vor allem dürfen die mittlerweile rund 20 Mio. Menschen nicht vergessen werden, die zumeist als Gastarbeiter*in, Vertragsarbeiter*in, Spätaussiedler*in oder Flüchtling nach Deutschland kamen und zusammen mit ihren Kindern und Enkeln ebenfalls das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft prägen.
Deutschland als Zuwanderungsland muss seine traditionellen Gedenkkultur hinterfragen und die deutsche Gesellschaft Formen sowie Inhalte des Erinnerns entwickeln, die der ethnischen Vielfalt dieses Landes gerecht werden. Das Fachforum versucht, diese Vielstimmigkeit aufzugreifen und Wege zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur aufzuzeigen, die neben den gemeinsamen Erfahrungen von Unterdrückung und Gewaltherrschaft auch die positiven Errungenschaften des demokratischen Gemeinwesens im Kampf um Demokratie, soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe betont.
Damit sind zugleich Kernfragen der historisch-politischen Bildung in der Einwanderungsgesellschaft verknüpft. Was sind gemeinsame Schnittmengen in der historischen Erfahrung von Menschen unterschiedlicher Herkunft? Welche davon sind konstitutiver Bestandsteil einer neuen Erinnerungskultur? Und wie verbinde ich dabei traditionelle mit neuen Formen des Gedenkens?